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Es klingt wie eine Anekdote, erweist sich aber bei näherer Betrachtung als kleine Sensation: Neuronale Stammzellen lassen sich relativ mühelos heranzüchten, um geschädigtes Organmaterial wieder zu erneuern – aus Gewebe, das dem verletzten Gehirn entstammt. Neue Therapien rücken näher.
Für die Patientin war es zunächst ein Drama. Durch eine Verkettung unglücklicher Essmanieren hatte sich ein Essstäbchen durch das Auge der Frau direkt in den inneren präfrontalen Kortex der selbigen gebohrt. Die Notfallmediziner agierten schnell und richtig: Sie lieferten die Patientin in das Huashan Shanghai Krankenhaus ein, wo sich Chirurgen in der gebotenen Routine um den Fall hätten kümmern können – normalerweise. Doch es kam anders, und in diesem Falle besser, als man denkt.
Denn der an der chinesischen Fudan University arbeitende Arzt Zhu Jianhong, der im Krankenhaus die OP durchführen sollte, wagte ein ungewöhnliches Stammzellexperiment. Aus dem am entfernten Essstäbchen haftenden Gewebematerial isolierte Zhu jene Zellen, die er für potenzielle adulte Stammzellen hielt. Dass die zur Reparatur von Körpergewebe vorhandenen Zellen im Herzmuskel des Menschen vorkommen, war dem Chinesen ohnehin bekannt. Doch warum, fragte sich der Forscher, sollten die Lebensretter nicht auch im Gehirn vorkommen? Die Zellkultur brachte Aufschluss: Rund vier Prozent der mit Hilfe des Essstäbchens zu Tage beförderten Zellen erwiesen sich als adulte Stammzellen, weitaus mehr, als Zhu sich erhofft hatte.
Der innere präfrontale Cortex avanciert damit zum spannenden Bioreaktor des menschlichen Körpers. Tatsächlich scheinen auch die Folgeversuche, die Zhu nach dieser Beobachtung unternahm, diese These zu bestätigen. Von insgesamt 22 Patienten, die mit offenen Schädelverletzungen eingeliefert wurden, konnte das Team um Zhu bei immerhin 16 Menschen die therapeutische Fracht aus dem körpereigenem Hirngewebe bergen. Die jetzt im New England Journal of Medicine veröffentlichten Untersuchungen öffnen womöglich das Tor zu einer neuen Ära der Stammzellforschung. Denn die aus neuronalem Gewebe gewonnenen adulten Stammzellen umgehen das ethische Problem, mit dem sich jeder Wissenschaftler auf dem Gebiet der embryonalen Pendants auseinandersetzen muss. Zudem versprechen körpereigene Stammzellen einen enormen therapeutischen Vorteil. Ärzte können sie in ausreichender Menge außerhalb des Körpers ihrer Patienten züchten und sie anschließend zurück in den Organismus injizieren – ohne dass das Immunsystem der Betroffenen auf die therapeutischen Zellen losgeht.
Damit nicht genug. Die Einsatzgebiete von körpereigenen, adulten Stammzellen sind womöglich weitaus größer, als zunächst angenommen. So gelang es Dennis Steindler vom McKnight Hirnforschungsinstitut der Universität von Florida, adulte Nervenstammzellen so zu programmieren, dass sie sich in neuronale Vorläuferzellen zurückentwickeln, aus denen sowohl Nerven- als auch Gliazellen in großer Zahl entstehen können – ein Novum.
Forscher könnten dem Gehirn Zellen entnehmen, im Labor vermehren und dann wieder implantieren. Möglicherweise können auf diese Weise in Zukunft unter anderem Patienten mit Parkinson behandelt werden. Auch sei denkbar, an Hand solcher isolierter Zellen im Reagenzglas Medikamente zu testen, bevor Patienten damit therapiert werden.
Ob solcher Perspektiven startete auch der Chinese Zhu zunächst Tierversuche. Der eigentliche Durchbruch kam aber erst, als Zhu acht Menschen mit schweren Kopfverletzungen nach seiner neuen Methode behandeln durfte. Dazu entnahm er seinen Patienten aus der offenen Hirnwunde Zellmaterial, daraus züchtete er eine ausreichende Menge an therapeutischen Stammzellen. Die spritzte er anschließend in das geschädigte Hirngewebe der Patienten – und beobachtete daraufhin eine deutliche Regeneration der lädierten Hirnareale.
Was nach Wunderheilung aussieht, ist in Wirklichkeit lediglich die Folge komplexer Prozesse, deren Mechanismus immer noch nicht vollständig entschlüsselt ist. Fest aber scheint zu stehen, dass die injizierten Stammzellen im Organismus einfach ihren Job ausführen – sie nehmen die Reparatur des beschädigten Gewebes in Angriff.
Quelle: Univadis